April 27, 2009 Archives

Mon Apr 27 16:16:38 CEST 2009

"Von der Leyen: Nur versierte Nutzer können Sperren umgehen"

"Von der Leyen: Nur versierte Nutzer können Sperren umgehen." (Originalartikel bei golem.de).

Als ich das gelesen hab, dachte ich mir zuerst "WTF?" - das kann nur eine arg überspitzte Formulierung eines Redakteurs sein... Dann packte mich aber doch die Neugier, was denn zu so einer Formulierung geführt haben könnte.

Ich war schockiert: Dort wird von der Leyen zitiert mit Aussagen wie dass sich "20% der Internetnutzer sich ausreichend auskennen" würden, um DNS-Sperren zu umgehen, dass dies "zum Teil schwer Pädokriminelle" sind und dass jene sich das notwendige Wissen im Zuge ihrer Neigungen selbst angeeignet haben. Ich fühle mich als ausgebildeter Fachinformatiker Anwendungsentwicklung diffamiert, verleumdet, verhetzt und diskriminiert, vor dem öffentlichen Auge gleichgestellt mit Schwerkriminellen. Meine Kollegen aus FIAE und FISI-Kreisen sowie Netzwerktechniker jeder Art aber auch Computer- und LAN-Spieler können mir sicher nachempfinden.

Ich kann die Angabe "20% der Internetnutzer" nicht nachprüfen, aber die Gruppe der "versierten Internetuser" doch ziemlich genau umreissen: Dazu gehören neben ausgebildeten und nicht-ausgebildeten Fachkräften auch alle jene Administratoren, die ein Netzwerk betreuen - dazu zählen Firmennetzwerke wie Heimnetzwerke, Betreuer von LAN-Parties und sicher auch der eine oder andere Internetnutzer wurde bei Problemen mit seinem Provider vom Support gebeten, seine "Interneteinstellungen" nachzuprüfen, insbesondere IP-Adresse, Gateways und eben die berüchtigten DNS-Server.

Alles, was nun einen Internetuser noch vom "ausreichend versierten Nutzer" unterscheidet, ist es, die IP dieses DNS-Servers zu verändern. Das ist wahrlich keine große Hürde mehr, oder?

Schliesslich störe ich mich an der Formulierung "zum Teil Pädokriminelle". Wieso sollen ausgerechnet jene Personen potentiell zu diesem Kreis gehören, welche sich mit der Technik (und mit ein wenig Berufs- oder mehr Interneterfahrung) auskennen? Und ist der restliche Teil dieser 20% dann "nur leicht pädokriminell"? Wer solche Behauptungen aufstellt, sollte diese auch belegen! Umgehend! Und nicht ganze Berufe und harmlose Interessengruppen (Computerspieler) diffamieren und zu Unrecht an den Pranger stellen!

"Zum Teil" ist übrigens eine typisch politische Aussage ohne informationellen Gehalt. Diese Angabe heisst (mathematisch) mindestens 1 Person und maximal "Alle minus eine Person" - oder eben niemand bis alle, wobei kein Politiker sich bisher diese letztere Interpretation erlaubt hat, soweit ich weiss. Und diese Angabe hat auch je Zielgruppe der Leser ganz verschiedene Lesarten: Für Menschen mit niedriger Bildung (es gibt Studien, die behaupten, dass eben dieser Kreis am wenigsten internetaffin sei) oder ohne Interneterfahrung kann "zum Teil" ein viel größerer Teil sein als für Experten - und genau das ist vermutlich auch mit dieser Formulierung beabsichtigt! Man opfert hier mit vagen Anschuldigungen und Verleumdungen eine Gruppe von unschuldigen Menschen (Grundanahme des Grundgesetzes!), zu denen man (als Politiker und Wähler gleichermaß) vermutlich kaum oder keinen Bezug hat, die sich dann gar nicht mehr zu Wort melden KANN (Kriminelle lügen doch grundsätzlich, denkt doch an die Kinder!). Wer widerspricht, wird bei solchen Themen von vornherein als Kinderschänder vorverurteilt - wie Frau von der Leyen auch bereits mehrmals selbst angedeutet hat...

"Wer Internetsperren (gegen Kinderpornographie) nicht unterstützt, fördert wissentlich den Missbrauch unschuldiger Kinder"

So und ähnlich argumentiert Frau von der Leyen ständig. Sie formuliert diese Anschuldigungen als Tatsachen und nicht als unbelegte Behauptungen. Was sie sagt, ist wahr und richtig. Wer widerspricht, lügt. Sie verhinder jeglichen demokratisch korrekten und sachlichen Diskurs.

Ich bezichtige Frau von der Leyen schuldig der öffentlichen Lüge (Provider/Internetsperren aus vorletztem Absatz), Verleumdung (inkorrekte und als Tatsache dargestellten Unwahrheiten über Computerbenutzer) und darüber hinaus der Volksverhetzung gegen Informatiker. Die Methodik erinnert stark an die zuerst unterschwellig, später geässerten "Unterstellungen" gegenüber Juden während der Nazi-Zeit. Genau auf diesem Niveau. Sollte einer meiner Kollegen zu Recht entscheiden, rechtlich gegen Frau von der Leyen vorzugehen, ziehe ich es direkt in Betracht, mich dem anzuschliessen. Und Unwissenheit als Argument oder Entschuldigungsversuch lasse ich seitens der Politik bei diesen gravierenden Anschuldigungen nicht gelten. Politiker sind in der Verpflichtung, das Land zum Wohle ihrer Bürger zu leiten, das setzt voraus, dass man sich mit seinen Argumenten auseinandersetzt, bevor man solchen Blödsinn von sich gibt und einen immensen Schaden an der demokratischen Kultur anrichtet.

So interessant und wegweisend ich andere Projekte dieser Frau finde und unterstütze, die Vorgehensweise gegen Informatiker in dieser Art ist absolut unerträglich. Und um das nochmal zu unterstreichen und all zu abwegige Interpretationen zu vermeiden: Im letzten Satz sind "ist" und "absolut" in vollem Maße nach deren ursprünglichen Bedeutung gemeint. Für Politiker ist "absolut" ein Ausdruck mit Gültigkeit bis nach der Wahl - für mich nicht.

Dieses Land brauch Politiker, die dazu stehen, was sie sagen und entsprechend auch ihre Worte nach der Wahrheit richten. Menschen, die zwischen Behauptungen und Tatsachen unterscheiden und Fehler eingestehen können. Individuen, welche nur versprechen, was sie halten können - und das auch umzusetzen versuchen. Frau von der Leyen zähle ich da ganz sicher nicht mehr dazu.

Meine ehemalige Schule - welche ihren Namen übrigens von den Vorfahren derer "von der Leyen" erhalten hat - hat mir (hoffentlich) genau diese Werte von Aufrichtigkeit und Anstand vermittelt, welche unsere Ministerin offensichtlich abgelegt hat. Es zählt nur die Wahlquote.

Es würde mich freuen, wenn ich hier bald eine Stellungnahme und Entschuldigung von Frau von der Leyen veröffentlichen dürfe.


Posted by satmd | Permanent Link | Categories: politics